Auf Pierer & Co.

Bücher sind Freunde, hat jemand gesagt. Für mich gab es nie einen Grund, daran zu zweifeln. Menschen, Tiere gehen von uns, und wir errichten Friedhöfe und halten Grabreden. Und wie steht es um die Bücher, die uns umgaben, Jahrzehnte oder ein Leben lang, und von denen wir eines Tages uns zu trennen Veranlassung haben (weil wir Platz brauchen oder schlechte Augen bekommen haben oder einfach nicht mehr können). Ist es nicht – gerade im Zeitalter des allgemeinen Buchsterbens – angebracht, den Blick nochmals auf das Buch zurückzubeugen, bevor wir es für immer fahren lassen.

Mit Pierers Universal-Conversations-Lexikon hat es begonnen – ernsthaft, meine ich. Das vereinzelte kleinere Gemüse zählt nicht. Aber die 18 Bände mit dem Wissen des 19. Jahrhunderts von A bis Z, das fällt ins Gewicht. Ein ganzes Tablar (einen Meter) habe ich damit freigeschaufelt, alles in zwei Denner-Papiertaschen verstaut. Doch dann habe ich mir, aus einer Laune, den obersten Band (A bis Arabische Religion) nochmals herausgegriffen und zufällig auf Seite 87 aufgeschlagen. Von der Absatzspritze (Feuerspritze ohne Windkessel) geht es über Absäugeln (im Gartenbau), Absceß, Abschäler, Abscheeren, Abscheiben (beim Kupferhüttenprozess) bis zu Abscheu des Leeren (horror vacui) und Abscheulich, welchem Adjektiv ein ganze kleine Abhandlung gewidmet wird:

«Physisch abscheulich ist, was dem Triebe nach Wohlbefinden in hohem Grade zuwider ist, also für Geruch u. Geschmack das Ekelhafte, für Gefühl u. Gesicht das Widerwärtige; moralisch abscheulich ist, was dem sittlichen Gefühl zuwider ist, z. B. das mit heimtückischer Überlegung, mit boshafter Kälte verübte Laster, Verbrechen , der Verrath etc. Doch ist der Begriff des Ascheulichen kein absoluter, sondern je nach den Ansichten, Theorien u. Vorurtheilen der Zeit verschieden. Manche Handlungen im öffentlichen Leben, die man vor Zeiten als vortrefflich angesehen, gelten heute als abscheulich u. umgekehrt. Auch je nach Volksklasse, Nationalität und Race ist der Begriff des Abscheulichen im weiteren Sinne verschieden.»

Solche Art des fast anheimelnden Erläuterns ist es, was das Konversationslexikon ausmacht: das verfügbare Wissen wird belehrend, als Conversations-Stoff vermittelt. Davon haben die Lexika und Enzyklopädien des 20. Jahrhunderts, auf die geraffte Information spezialisiert, nichts mehr an sich. Von weit her kommen auch die Realien, welche die Welt der alten Konversationslexia bevölkern. Das Abschmatzen etwa wird heute einhellig und ausschließlich als «geräuschvolles Abküssen» verstanden. Pierers Abschmatzen grüßt aus der Forstwirtschaft herüber: «die Stöcke der gefällten Bäume nicht ausroden, sondern bis zur Erde mit Keilen abspalten».

Kurz: mich in den vergilbten, säurebeschädigten Band vertiefend, habe ich wieder (oder erstmals vielleicht) den Narren daran gefressen und dem Gesamtwerk ein kleines Abschieds-Gedenken gestiftet.

 

Nachtrag

Nachdem ich zwei Tage lang von Antiquariat zu Antiquariat geirrt und am Schluss in der Brockenstube gelandet bin, um einmal mehr zu erfahren, wie bücherunwürdig selbst an den Bücherstätten mit den Büchern verfahren wird, habe ich beschlossen, die stockfleckigen Bände wieder ins Regal zurück zu stellen und ihnen noch ein paar Jährchen gegen den Lauf der Zeit einzuräumen.